Wessen Reichtum? Sollte das deutsche Proletariat die soziale Frage stellen?

Hier wird in der Fabrik geschuftet: Eisenwalzwerk 1875

Was ist eigentlich die Soziale Frage? Darauf kann man verschiedene Antworten geben. So sagte der damalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz, die soziale Frage sei der Kampf für die Menschen, „die hart arbeiten und sich an die Regeln halten“. Der Vorsitzende der Thüringer AfD Björn Höcke sagte, die „soziale Frage stellt sich heute für Deutschland ganz neu und ganz anders. Es gehe nicht mehr primär um die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten oder von unten nach oben oder von jung nach alt, das sei nicht mehr die primäre soziale Frage. […] Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist also die Frage nach der Verteilung unseres deutschen Volksvermögens […] von innen nach außen.“

Man kann Höckes Aussage als bloße Propaganda und notdürftiges Deckmäntelchen zur Legitimation von Rassismus und Flüchtlingsfeindlichkeit abtun und es dreist finden, beides auch noch als ureigenstes Projekt der Arbeiter*innen darzustellen. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Deutschland als Nation eine Insel des Wohlstandes ist – sogar innerhalb Europas. Außerdem atmet Schulz‘ Formulierung ebenso den Geist des Populismus und Autoritarismus, der auch Höcke beseelt. Und noch viel eindrücklicher: Den 55% SPD-Wählern, die sich in der Formulierung wiederfinden, stehen 77% der AfD-Wähler gegenüber.

Die Antwort auf die Frage: Umverteilung

Unumstritten ist die soziale Frage eine nach der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten. Laut Wikipedia bezeichnet sie die „sozialen Missstände“ infolge der Industrialisierung. Beides zusammengenommen ist klar: Es geht um die gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Für die Situation nach der Industrialisierung lautete die Antwort auf die Soziale Frage häufig: wenn schon nicht Sozialismus, dann zumindest eine „progressive Einkommensteuer“ (Gothaer Programm der SPD), also innergesellschaftliche Umverteilung von oben nach unten, also von den (deutschen) Kapitalist*innen zum (deutschen) Proletariat. Schließlich ist die Arbeit „die Quelle allen Reichtums“ und die „gerechte Verteilung des Arbeitsertrages“ heißt „die Lösung der sozialen Frage anzubahnen“. Es ist ja auch ganz einfach: Wer den Reichtum der Gesellschaft produziert, dem soll er auch gehören. Welche Seite die Gerechtigkeit hinter sich hat, ist also klar.

… aber was eigentlich?

Es stellt sich jedoch noch die Frage, was genau umverteilt werden soll. An der einfachen Reproduktion 1 gibt es nicht viel zu rütteln, die Gesellschaft soll ja durch die Umverteilung nicht ärmer dastehen als zuvor. Übrig zum Verteilen bleibt nur das Mehrprodukt, das im Kapitalismus die Form des Profits annimmt. Die soziale Frage ist also der Machtkampf um die Verteilung des Profits.

Was „Profit“ ist, erklärt Paul Mattick (junior) in seinem Buch „Business as usual“:

„Der Profit ist ein Teil der gesamten produktiven Arbeit der Gesellschaft […]. Da er lediglich die verbleibende Summe ist, nachdem der Tausch sämtlicher Güter gegen Geld wieder die benötigten Mittel für Produktionsgüter und Arbeitskraft hervorgebracht hat, wird er vom gesellschaftlichen System hervorgebracht, auch wenn einzelne Unternehmen ihn erhalten.“

Auch wenn es so erscheint, ist er also nicht der je individuelle Gewinn der einzelnen Unternehmen, sondern vielmehr die Summe der Gewinne und Verluste aller Unternehmen zusammen. Denn: „Einige Kapitalisten spezialisieren sich darauf, die Güter und Dienstleistungen anderer zu verkaufen; dafür beanspruchen sie einen Teil des Profits, den diese andernfalls behalten könnten.“ Oder anders ausgedrückt: „Sind Unternehmen […] in der Lage, die Konkurrenz durch die Bildung von Monopolen oder Quasi-Monopolen einzuschränken, bedeuten die von ihnen erzielten Extraprofite niedrigere Profite für Unternehmen in anderen Branchen.“ Hier ein Beispiel: Ein Unternehmen, das Stahl herstellt, beschäftigt Anwält*innen und verkauft seine Produkte zu einem bestimmten Preis an die Großhändler*innen. Sind die Preise niedrig und/oder die Anwälte teuer, kann es sein, dass vom Umsatz kein Gewinn übrigbleibt, sondern das Unternehmen Verluste einfährt. Dennoch ist gesellschaftliches Mehrprodukt, also Profit, entstanden. Er landet bloß bei den Anwält*innen und Großhändler*innen und nicht beim Stahlunternehmen. Nur, weil auch „natürliche Ressourcen wie Land und Öl“ und sogar das Geld und seine Repräsentanten (Schuldscheine, Aktien, Anleihen, CDOs) selbst gegen Geld getauscht werden und somit wie andere Waren erscheinen, erscheint auch jede Investition, die einen Teil des Profits auf sich zieht, ebenso als „Industrie“ wie die tatsächliche Produktion von Gütern (bspw. Immobilienwirtschaft, „Finanzindustrie“).

Arbeitsteilung: national und global

Auch heutzutage gibt es natürlich noch nationale Bourgeoisien, die ihr je nationales Proletariat ausbeuten. Aber die innergesellschaftliche Teilung der Arbeit hat sich zum großen Teil in eine internationale Teilung der Arbeit verwandelt. Zugespitzt: Gab es früher noch Fabriken und die dazugehörigen Büros der Chef*innen und Angestellten, ist Deutschland mit der Konzentration des Kapitals jetzt ein einziges großes Chefbüro geworden. Selbst die Fabriken, die noch in Deutschland stehen, werden teilweise nur noch fürs „Made in Germany“-Label benötigt.

Bei einer solchen Form der globalen Arbeitsteilung, in der ganze Teile der Produktion und damit der Wertschöpfungskette zwischen Staaten aufgeteilt sind, stellt sich die Frage, an wen die Arbeiter*innen in Deutschland ihren Anspruch auf die Verteilung des Profits richten können. Zwar haben jene, die hier die Bedingungen für die Mehrwertproduktion schaffen, einen Anspruch auf Beteiligung an eben jenem Mehrwert. Wenn sich der Anspruch jedoch nach denen richten soll, die bereits im Vorfeld Mehrwert geschaffen haben, heißt das für die deutschen Arbeiter*innen eben auch, dass sie sich auf die Produzent*innen in anderen Ländern verweisen lassen müssten. Ihr Anspruch kann sich also nur nach deren Anspruch richten.

Was bedeutet also eine global gerechte Umverteilung?

Man darf dabei natürlich nicht auf das Klischee hereinfallen, dass es dem*der Hartz-IV-Bezieher*in in Deutschland immer noch besser geht als jedem*jeder Arbeiter*in in China oder anderswo. Auch dort gibt es natürlich große Mittelklassen aus Facharbeiter*innen und Angestellten. Aber es erscheint schon zweifelhaft, ob eine anteilige Aufteilung des globalen Reichtums auf seine Produzent*innen selbst für deutsche Mindestlohnempfänger*innen positiv ausfallen würde. Betrachtet man dazu die riesige Masse an für das Kapital Überflüssigen auf dem gesamten Globus, denen Arbeit daher gar nicht möglich ist und folglich in gleicher Weise berechtigt sind, würde eine faire Verteilung für das deutsche Proletariat mit Sicherheit zum Minusgeschäft.

Früher konnte das deutsche Proletariat völlig zu Recht mehr (alles) vom gesellschaftlichen Reichtum einfordern. Und zwar gegenüber allen, nicht bloß im Verhältnis zu ihren Chef*innen: Sie hatten den Reichtum ja geschaffen. Heute ist davon nicht mehr viel geblieben. Angesichts einer im Gesamtkontext nicht allzu großen Mehrwertproduktion (die etwas anderes ist als Wertschöpfung) und global gesehen ungerechtfertigtem Reichtum kann sich das deutsche Proletariat nur noch gegen die richten, die mehr haben, aber auch nicht besser sind als es selbst. Gegenüber allen anderen kann es nicht rechtfertigen, warum ihm sein Reichtum zusteht. Die Gerechtigkeit hat es nicht mehr hinter sich.

Der Anspruch der globalen Produzent*innen

Sehen sich Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland umgekehrt gemeinsam den (wirklichen oder bloß imaginierten) Ansprüchen der eigentlichen Mehrwertproduzent*innen ausgesetzt (und sei es in der Form von „Wirtschaftsflüchtlingen“), bleibt als Antwort wahrscheinlich wirklich nicht mehr viel anderes übrig als die Beantwortung mit Abschottung, bloßer Gewalt, Rechts- oder Linkspopulismus. Gerade dass Martin Schulz zum Thema „soziale Frage“ nichts anderes als die Formel „harte Arbeit + Autoritätshörigkeit“ einfällt, zeigt die Hilflosigkeit der Linken. Steht der geschaffene Reichtum einem selbst genauso wenig zu wie „denen da oben“, bleibt nur übrig, dass es denen nicht zusteht.

Zum Glück zeigt das aber nicht, dass der Sozialismus unmöglich ist. Es zeigt nur, dass er genauso international wie das Kapital sein muss und mit nationaler Politik nicht zu erreichen ist.

Jan Schneider, LV Thüringen

  1. Wiederherstellung der für die vergangene Produktionsperiode verbrauchten Güter, Maschinen, Arbeitskräfte usw.