„Solidarisch für ein gemeinsames Ziel“: Interview mit CENî, dem Kurdischen Frauenbüro für Frieden, zur Rolle der Frau im kurdischen Widerstand

zwei kurdische Mädchen beim Newroz-Fest. Quelle: Wikimiedia Commons

Stellt euch bitte kurz vor: Wer seid ihr, was ist CENî, was macht ihr?

CENî ist das kurdische Frauenbüro für Frieden e.V. Der Verein wurde 1999 von kurdischen und türkischen Frauen, die hier in Europa leben, gegründet. Das Ziel ist von Frauen für Frauen Solidarität zu erwecken und zu stärken. Im Zentrum stehen Frauenkämpfe und -organisierung. Dazu ist es erstmal wichtig, dass wir über die Situation von Frauen in den kurdischen Gebieten, dem Mittleren Osten und weltweit informieren, denn viele wissen gar nicht, was um sie herum so alles geschieht. Friedensengagement bedeutet für uns nicht nur, uns gegen Kriege und jede Form von Unterdrückung zu stellen. Vielmehr ist der Einsatz für eine freie und ökologische Gesellschaft, die auf sozialer Gerechtigkeit beruht und eine Alternative zum patriarchalen Herrschaftssystem darstellt ein wesentlicher Bestandteil unserer Friedensarbeit.

Wir organisieren z.B. Kampagnen gegen Gewalt an Frauen und Feminizide1, für die Freiheit politischer Gefangener, für den Aufbau eines Gesundheitszentrums in Shengal und Kobane und für ein Ende der Besatzung in Afrin, sowie verschiedene Infoveranstaltungen, Delegationen in kurdische Gebiete und gemeinsam mit Anderen das kurdische Zilan-Frauenfestival.  Außerdem machen wir viel Öffentlichkeitsarbeit zu Frauenkämpfen weltweit.

Welche(n) Konflikt(e) seht ihr aktuell in kurdischen Gebieten und für Kurd*innen?

2´Aktuell sind wir stark mit der Situation in Afrin beschäftigt. Dort wurde ein Angriffskrieg der Türkei – als Natopartner – mit Hilfe von jihadistischen2 Gruppen geführt. Seit mehreren Wochen ist das Gebiet durch diese Banden besetzt. Jeden Tag gibt es Meldungen über Vergewaltigungen und Entführungen von Frauen. Zudem sind über 100.000 Menschen weiterhin auf der Flucht. Die leerstehenden Häuser werden enteignet und jihadistische Familien dort angesiedelt. Frauen werden gezwungen sich zu verschleiern. Dies wird leider kaum in internationalen Medien thematisiert oder von der Politik kritisiert. Nun greift das türkische Militär Ziele in Südkurdistan/Irak an und wieder ist international gähnende Stille.

Außerdem stehen nun die Wahlen in der Türkei an, dies ist auch für die Frauen eine entscheidende Wahl, denn unter Erdogans politischen Kurs mussten vor allem Frauen leiden. Frauenberatunsgszentren wurden geschlossen, es gibt immer mehr Gewalt gegen Frauen und die Zahl der Feminizide steigt. Zudem wird ein fairer Wahlkampf negiert und jeden Tag gibt es Übergriffe auf HDP-Wahllokale oder -stände. Wir schicken auch in diesem Jahr eine Frauendelegation als Wahlbeobachterinnen in die kurdischen Gebiete. Sie haben ihre Eindrücke auf Twitter festgehalten: Frauendelegation2018@Berlin-Amed

In den letzten Jahren hat sich insgesamt eine Entwicklung ergeben, die den Konflikt von der sogenannten „Kurdischen Frage“ ausgeweitet hat auf viele andere unterdrückte Bevölkerungsteile. Rojava ist zur Demokratischen Föderation Nordsyrien geworden, nun leben, streiten und kämpfen kurdische, arabische, ezidische 3, assyrische4, armenische, turkmenische und viele andere Bevölkerungsgruppen miteinander. Auch auf den sog. Westen, Lateinamerika und Afrika hat die Revolution in Rojava eine große Wirkung. Damit ist der Gedanke, mit dem CENî gegründet wurde, nämlich, dass nur ein gemeinsamer und vielfältiger Kampf erfolgreich sein wird heute umso präsenter und sichtbarer.

Wie seht ihr die Rolle der Frau in einer sozialistischen Gesellschaft?

Es kann nur eine freie Gesellschaft geben, wenn die Frau frei ist. Wir kämpfen für eine geschlechterbefreite Gesellschaft, in der Menschen gleichbestimmt miteinander leben können. Die kurdische Frauenbewegung setzt sich für das Gesellschaftsmodell des „demokratischen Konföderalismus“ nach Abdullah Öcalan ein. Dies wird bereits in einigen Gebieten in die Realität umgesetzt, wie beispielsweise in Rojava. In Afrin wurde die basisdemokratische Struktur der Bevölkerung durch die Besatzung der Türkei und deren jihadistischen Verbündeten blutig und brutal niedergeschlagen.

Geschlechterbefreiung wird praktisch durch Frauenräte, -kooperativen, -akademien und vieles mehr. Eine autonome Frauenorganisierung auf allen Ebenen und in allen Bereichen stellt sicher, dass wir das Patriarchat sowohl in unseren Köpfen als auch in unseren Herzen und in unserem Handeln überwinden können. Denn nur durch eine autonome Organisierung findet eine Loslösung von der normalisierten patriarchalen Denk- und Lebensweise statt.

Welche Aufgaben übernehmen Frauen in der kurdischen Bewegung?

Frauen übernehmen in der kurdischen Bewegung die Vorreiterinnenrolle. Sie haben eine treibende Kraft und sind oft in der ersten Reihe, um neue Konzepte umzusetzen und Widerstand gegen staatliche Strukturen, wie in der Türkei, oder militärische Angriffe in Syrien oder Irak zu leisten. Die Frauenbewegung ist sehr stark, weil Frauen sich zusammengeschlossen haben und sich solidarisch für ein gemeinsames Ziel einsetzen.  

Was motiviert Frauen, sich in lebensgefährliche Situationen, die der kurdische Widerstand mit sich bringt, zu begeben?

Es ist der Wunsch nach einem selbstbestimmten und freien Leben. Abgesehen davon, dass allein schon in kurdischen Gebieten zu leben bzw. Kurdin zu sein, ohne sich aktiv dem Widerstand angeschlossen zu haben, sehr gefährlich ist. Die Lebensrealität ist diesbezüglich eine ganz andere als hier. Viele kurdische Frauen stellen sich die Frage: „Will ich ein freies Leben führen und nehme damit auch lebensgefährliche Situationen in Kauf, oder führe ich zwar ein Leben, bin aber nicht frei? Es ist uns wichtig zu sagen, dass die kurdischen Frauen gerade durch die Konfrontation mit Tod und Unterdrückung das freie Leben über alles stellen und alles dafür tun, um selbst ein freies Leben führen zu können und um der Gesellschaft ein freies Leben zu ermöglichen.

Wie können wir es eurer Meinung schaffen, eine gleichberechtigte Gesellschaft umzusetzen?

Wenn es darauf eine einfache Antwort gäbe, hätten wir das vielleicht schon längst geschafft. Wir denken, dass es an den verschiedenen Orten verschiedene Schritte braucht. Wenn wir uns im Besonderen Deutschland anschauen, dann sollten wir uns vor allem mit der Hoffnungslosigkeit und der erlernten Hilflosigkeit derjenigen, die eigentlich eine Veränderung anstreben und initiieren könnten, auseinandersetzen. Tagtäglich wird uns eingebläut, dass es keine Alternative gibt und dass bislang jeder Versuch der radikalen Veränderung gescheitert ist. Das sagt ja aber noch lange nichts aus über unsere Zukunft! Wenn wir wirklich eine Veränderung wollen, dann müssen wir einen Weg finden unseren Willen umzusetzen und das zu unserer obersten Priorität machen. Wir sehen, dass hier viele nur für sehr kurze Zeit politisch aktiv sind und bei den kleinsten Schwierigkeiten wieder einknicken und sich in ihr bequemes Leben zurückziehen. Politik wird als Hobby verstanden, nicht als Lebensaufgabe!

Könnt ihr euch mit deutschen feministischen Bewegungen identifizieren? Wo seht ihr Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Arbeitet ihr mit anderen feministischen Gruppen hier in Deutschland zusammen? Beschäftigt ihr euch auch mit Rechten von Homosexuellen und Queers?

Wir arbeiten in vielen Bereichen gemeinsam und haben gemeinsame Kämpfe. Die HDP in der Türkei hat beispielsweise Kandidat*innen aus der LGBT* zum Wahlkampf aufgestellt. Es soll weder Diskriminierung stattfinden aufgrund des Geschlechts, noch wegen der Ethnie oder Religion. Auch hier in Deutschland beteiligen wir uns an LGBT* Aktionen und sind im gemeinsamen Austausch und in Annäherung.

Wir sehen sowohl bei feministischen Gruppen als auch bei queeren Gruppen die Gefahr, dass sie sich zu sehr auf das Thema Geschlecht fokussieren, dass sie Geschlecht als eine individuelle Sache verstehen und damit ihren Kampf begrenzen. Wie können Menschen ihr Geschlecht frei leben, wenn sie in einer unterdrückerischen, auf Hierarchien basierenden Gesellschaft leben?  Das geht einfach nicht! Deshalb ist es unserer Meinung nach notwendig, dass sich diese Gruppen als Teil der Gesellschaft verstehen und nicht als eine außerhalb stehende Gruppe. Sie sind eigentlich diejenigen, die am meisten Erfahrung, Kraft, Kreativität und Mut haben, um die Gesellschaft zu verändern und zu demokratisieren, sodass alle Menschen mit ihren Besonderheiten und ihren Farben in Respekt füreinander miteinander leben können.

Vielen Dank für das Interview und die Beantwortung all unserer Fragen!

Das Interview führte Lena Hermansen für die Internationale Kommission am 25. Juni 2018

Wenn ihr mehr über CENî wissen oder mit ihnen Kontakt aufnehmen möchtet, besucht doch ihre Internetseite: https://cenifrauen0404.wixsite.com/cenifrauen

  1. Tötung eines Menschen aufgrund ihres weiblichen Geschlechts.
  2. Glaube an den “heiligen Krieg”, nach dem der Islam auch mit Gewalt verteidigt und ausgebreitet werden muss
  3. Auch jesidisch – eine Glaubensminderheit im Nordirak.
  4. Eine Minderheit im Nahen Osten, gehören dem orientalischen Christentum an.