Wohnst du noch oder lebst du schon? Eine Einführung in das Recht auf Stadt

Mietenwahnsinn-Demo Berlin am 14.04.2018 /// Foto: GloReiche Nachbarschaft flickr

Dass Leben und Wohnen miteinander zusammenhängen, weiß Ikea schon lange. Der Trend in Stadtentwicklung und Wohnungspolitik geht jedoch in eine andere Richtung. Mieten steigen, Wohnraum wird knapper, es wird in Luxuswohnungen und Prestigeobjekte investiert, aber nicht in Sozialwohnungen, Grünflächen müssen Einkaufszentren weichen.

Wer bisher dort wohnte und lebte, scheint in der neoliberalen Stadt aus dem Fokus geraten zu sein. Wenn unternehmerische Profitmaximierung zum Ideal wird, sich Städte selbst zu Unternehmen wandeln und Privatisierung als Lösung für alle Problem genutzt wird, stehen Ausgrenzung und Verdrängung auf der Tagesordnung. 

Dies bleibt jedoch nicht ohne Reaktion. Protestbewegungen weltweit fordern das „Recht auf Stadt“ und stellen damit viele Fragen: Wem gehört die Stadt? Wer darf darüber bestimmen? Wer kann sie nutzen und auf welche Art und Weise? Wer verdient mit ihr Geld? Ausgehend von der Praxis fordern sie Mitbestimmung und wehren sich gegen ihren Ausschluss. Dabei entwickeln sie konkrete Visionen, wie eine Stadt, die die Interessen der in ihr lebenden Menschen (unabhängig von Einkommen, Aufenthaltsstatus oder Geschlecht uvm.) in den Mittelpunkt stellt.

Das Recht auf Stadt von Lefebvre – Inspiration, nicht Instruktion

Das Recht auf Stadt ist eine Referenz auf den französischen Soziologen Henri Lefebvre, der in seinem 1968 erschienenen Buch „Le droit á la ville“ eine schemenhafte Stadtutopie – den demokratischen Urbanismus – umreißt. 

Beim Recht auf Stadt geht es nicht um ein einklagbares Individualrecht im Sinne der bestehenden Rechtsordnung, sondern um „ein Bündel von kollektiven Rechten, die durch eine Aneignung des städtischen Raumes, durch dessen Neuproduktion wider die kapitalistische Logik erstritten werden.“, wie es im Artikel “Recht auf Stadt – mehr als eine griffige Parole” heißt. Es ist also ein politisches Konzept, eine konkrete Utopie und eine kollektive Forderung zugleich. Lefevbre konzipierte es auch als ein „Recht auf Nichtausschluss“ von den Qualitäten und Leistungen der urbanisierten Gesellschaft und wandte sich damit gegen Verdrängung und Ausgrenzung von städtischen Ressourcen und Dienstleistungen.

Wichtige Verfeinerungen sind das Recht auf Zentralität, also für den Zugang zu Orten des gesellschaftlichen Reichtums, der städtischen Infrastruktur und des Wissens sowie das Recht auf Differenz, also der Stadt als Ort des Zusammenkommens und der Auseinandersetzung. 

Ökonomisch orientiert es sich an einer Umverteilung zugunsten der am stärksten Benachteiligten, kulturell an der Anerkennung und Berücksichtigung von Differenten und politisch an der Ermöglichung einer demokratischen Mitgestaltung für alle. Visionen für eine emanzipative und gerechte Stadtentwicklung können unter diesem Namen entwickelt werden. Lefebvre gibt für sie eher eine Inspiration und einen Slogan, als eine Handlungsanweisung.

Von Bildungsbürger*in bis zum Illegalisierten – das Recht auf Stadt ist Stadt für alle

In Istanbul wehren sich Roma-Nachbarschaften gegen den Abriss einer ganzen Siedlung, in New Orleans fordern die Mieter*innen der Sozialwohnungssiedlungen die Rückkehr in ihre preiswerten, zentralen Wohnungen, in Hamburg besetzen Künstler*innen die letzten historischen Gebäude des Gängeviertels, um Neubaupläne der Investoren zu verhindern. Die unterschiedlichen Umstände der verschiedenen Orte, von denen die Liste der Beispiele noch viel weiter geführt werden könnte, haben zur Folge, dass die Parole „Recht auf Stadt“ mit jeweils differenzierten konkreten Forderungen und Bedürfnissen gefüllt wird, die den lokalen Entwicklungen entsprechen. Mietkämpfe werden mit der Aneignung von städtischem Raum und mit der Infragestellung von Ausgrenzungsprozessen in Verbindung gebracht.

Sie kämpfen alle für bezahlbaren Wohnraum, für die Möglichkeit, in den Vierteln, in denen sie wohnen, selbstbestimmt leben zu können, also für eine Stadtplanung von unten, die die in der Stadt lebenden Menschen als die Grundlage ihrer Planung sieht.

Das Recht auf Stadt versucht oft, nicht nur die Partikularinteressen Einzelner zu erfüllen, sondern die Perspektive der Betroffenen zu nutzen, um so eine Verbesserung für alle durchzusetzen. Dies trifft aber nicht auf alle Beispiele zu.

Die neoliberale Stadt 

Neoliberalismus als Gesellschaftsordnung hat das Ziel, alle Lebensbereiche zu kommodifizieren1 und so für eine ökonomische Verwertung bereit zu stellen.  Deregulierung, Dezentralisierung, Austerität und Sparpolitik sowie Privatisierungen und die Sicherstellung eines ökonomischen Wettbewerbes sind Kernstücke des neoliberalen Projekts. In der Innenstadt ist dies durch Gentrifizierung besonders spürbar und sichtbar. So werden städtische Infrastrukturen – wie etwa Wohnraum –  an Private verkauft, ebenso öffentliche Einrichtungen – wie Schwimmbäder und Kulturbetriebe, Theater und sogar Schulen – der Logik der Profitgenerierung unterstellt.

Auch die Stadt selbst wird zum Unternehmen. Dazu gehört der Wettbewerb von Städten untereinander, die Umstellung der Verwaltung nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und die unternehmerische Orientierung der Stadtregierung selbst. Oberste Maxime ist nur die Wirtschaftsfähigkeit und nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung. Die Bewohner*innen fühlen sich dadurch unmündig und den Entwicklungen zunächst hilflos ausgeliefert.

So haben sich in vielen Metropolen weltweit die Innenstädte durch Gentrifizierungsprozesse zu exklusiven Wohnvierteln für Gutverdiener*innen, Shoppingparadiesen und Touri-Attraktionen verwandelt, in denen der bisherige Bewohner*innenmix nicht mehr wohnen, einkaufen und mitgestalten kann. 

Lebensmittelpunkt oder Investitionsmöglichkeit

Die Frage nach Wohnraum hat unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits ist Wohnen ein Grundbedürfnis und hat dazu eine soziale Funktion, die des Zuhauses, des Schutzraums und der Identität, sie strukturiert über die Nachbarschaft soziale Beziehungen. Andererseits hat sie eine ökonomische Funktion, die einer Ware also, mit der Rendite erwirtschaftet werden soll. Anders als bei Konsumgütern, bei denen (in kapitalistischer volkswirtschaftlicher Logik) das Individuum sich entscheiden kann, ob es das Produkt nutzen möchte oder nicht, geht das beim Wohnen nicht. Das Verhältnis von Mieter*innen und Vermieter*innen ist kein klassisches Angebot/Nachfrage-Verhältnis, sondern Mieter*innen sind in einer absoluten Abhängigkeit von Vermieter*innen. Unter anderem hier wird die neoliberale Stadt konkret, da mit Bedürfnissen spekuliert wird.

Es ist absurd, dass in Zeiten von steigenden Mieten und Wohnraummangel Wohnungen leer stehen, weil sich das „mehr lohnt“. Immobilien sind das Spekulation- und Investitionsobjekt schlechthin. 

Es geht um mehr als nur ein Dach über dem Kopf

Die Forderung nach einem Recht auf Stadt beinhaltet mehr als den Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum.

In einer Stadt, die ein sozialer Ort ist, an dem Menschen sich begegnen, Ideen haben, sich anfreunden und streiten, muss mehr als ein Dach über dem Kopf sichergestellt werden. Für die dauerhaft ökonomisch Ausgeschlossenen, für die aus gentrifizierten Innenstädten verdrängten Bewohner*innen, für von restriktiver Einwanderungspolitik betroffene Migrant*innen, für Illegalisierte stellt sich die Frage nach Teilhabe an der Stadtgesellschaft und an ihren Ressourcen auf eine ganz unmittelbare Art und Weise.

Eine Forderung an die Stadtpolitik ist, ihre Handlungsspielräume im Sinne der Stadtbewohner*innen zu nutzen, sich gegen Privatisierung und den Ausverkauf der Stadt, gegen Gentrifizierung und Verdrängung und gegen Segregation2 und Ausgrenzung zu stellen. Auch die Frage nach Zugehörigkeit wird in diesem Zusammenhang neu verhandelbar, wenn Stadtbewohner*innen als diejenigen Menschen definiert werden, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Dies schließt die Forderung nach dem Zugang zu den Ressourcen der Stadt wie Krankenhäuser und Schulen mit ein.

Dies ist immer eine Kritik an der kapitalistischen Verwertung von Wohnraum und stellt sich gegen die Politik der neoliberalen Stadt und deren Konsequenzen von Ausbeutung, Verdrängung und Ausschluss, auch wenn dies nicht immer so deutlich gefordert und formuliert wird.

Es geht im Konkreten darum, dieses Recht auf Stadt nicht nur zu fordern, sondern über konkrete Formen der Aneignung nachzudenken und sie in der Praxis auszuprobieren. Es lässt sich gerade nicht auf eine konkrete Forderung und ein Projekt beschränken, sondern steht für die Repolitisierung im Sinne einer öffentlichen Verhandlung der Stadt.

So klar diese Positionierung gegen die konkrete Bedrohung aussieht, so schwer ist es, gemeinsame, breite Visionen zu entwickeln, wie die Idealvorstellung der partizipativen Stadt aussehen kann. Doch gerade das ist das Potenzial, was es zu entwickeln gilt. Unterschiedliche Akteur*innen und Bewegungen vereinen sich unter dieser Forderung. Das Recht auf Stadt ist vielseitig und das ist seine Kraft.

Eva Gertz, LV Berlin

Weiterlesen: 

Vollmer, Lisa: Strategien gegen Gentrifizierung.

Harvey, David: Right to the City

Lefebvre, Henri: Das Recht auf Stadt

  1. Kommodifizierung: Prozess der Kommerzialisierung, beispielsweise durch Privatisierung.
  2. Segregation bedeutet Trennung, im Fall von Stadt, dass Menschen etwa aufgrund ihres geringeren Einkommens aus dem Zentrum ziehen müssen. So können such das Leben dort nur noch besserverdienende Menschen leisten.