Sport Frei! Eine kleine Geschichte der Arbeiter*innensportbewegung

Werbefahrt von Berliner Arbeitersportler*innen der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit / Das Bild stammt aus der Fotosammlungvon Helmut Weiß, Berlin-Köpenick

Linke und Sport, das war stets eine schwierige Liebesbeziehung. Einerseits waren die Tugenden des Sports, wie sie sich historisch in der deutschen Turner*innenbewegung manifestierten, den Idealen eines mal mehr und häufig weniger fortschrittlichen Bürgertums verpflichtet. Andererseits wollten auch Arbeiter*innen Sport treiben ohne sich dabei von den bürgerlichen Turnvereinen abhängig zu machen. Zu diesen hatten sie aufgrund hoher Mitgliedsbeiträge und der teuren Ausrüstung in aller Regel ohnehin keinen Zutritt. Das schwierige Verhältnis zu den bürgerlichen Vereinen wurde ab 1878 zusätzlich durch die politische Stimmung innerhalb der Turnbewegung verschlechtert, die im Zuge der Sozialistengesetze deutlich nach rechts rückte und viele sozialdemokratische Turner*innen ausschloss. Der Klassendünkel der bürgerlichen Vereine ging so weit, dass Arbeiter*innen teilweise explizit von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen waren.

Dabei hatten gerade Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene Rationalisierungsmaßnahmen in den Betrieben und erfolgreiche Kämpfe um die Verkürzung des Arbeitstages dazu geführt, dass Proletarier*innen mehr Freizeit hatten, über die sie in den Grenzen ihrer ökonomischen Lage frei verfügen konnten. Schließlich konnte – nach dem Fall der Sozialistengesetze im Jahre 1890 – der Arbeiter-Turn-Bund als erste reichsweite Vereinigung der proletarischen Turner*innen gegründet werden. Nur zwei Jahre später folgte die Gründung der Naturfreunde als Arbeiter*innenverband für Wanderungen, Bergsteigen sowie den Skisport und im Jahre 1869 hoben proletarische Radsportler*innen den Rad- und Kraftfahrer-Bund „Solidarität“ aus der Taufe.

Die Arbeiter*innensportbewegung als Institution des proletarischen Soziallebens

Obwohl dies heute kaum noch vorstellbar ist, bildeten die Arbeiter*innen gegen Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert eine institutionalisierte Parallelgesellschaft zu den bürgerlichen Klassen. Räumlich war man schon durch das Zusammengepferchtsein in den Arbeiter*innenvierteln vom Rest der Gesellschaft abgetrennt. Dasselbe galt auch ökonomisch und kulturell, denn zu den Institutionen des bürgerlichen Soziallebens hatten die Arbeiter*innen aufgrund ihrer ökonomischen Lage keinen Zutritt. Kulturelle Angebote, die sich an eine vermeintliche Allgemeinheit richteten, wie etwa die heutigen Massenmedien, gab es noch nicht.

Deshalb lernten die Arbeiter*innen schnell von der Waffe der Solidarität auch im Alltag Gebrauch zu machen. Arbeiter*innenkonsumvereine dienten zur gemeinsamen Selbstversorgung, die Naturfreunde boten Reisen und Bergwanderungen an, Arbeiter*innengärten dienten zur Stadtranderholung und Bildungsvereine ermöglichten es den Arbeiter*innen, jene Dinge zu lernen, die in ihrer Volksschulbildung ausgespart blieben. Auch die Geschichte der Falken ist mit diesen Entwicklungen eng verbunden.

Zu diesem Zeitpunkt gehörte die deutsche Arbeiter*innenbewegung zu den größten der Welt und verfügte mit der SPD über eine außerordentlich starke Partei. Die Ausgangsbedingungen für die Herausbildung neuer Institutionen des Zusammenlebens waren also günstig, aber das Verhältnis zwischen den organisierten proletarischen Turner*innen und der SPD war zunächst angespannt. Die Partei befürchtete, die jungen Genoss*innen würden sich womöglich zu viel für den Sport und zu wenig für die Politik interessieren.

Sozialistische Körperkultur und Volksgesundheit

Entgegen dieser ursprünglichen Bedenken war es aber nicht zuletzt die Arbeiter*innensportbewegung, welche den immer weiter ansteigenden Organisationsgrad der Klasse über die unmittelbare Politik und Gewerkschaftsarbeit hinaus erst ermöglichte. Dass die Arbeiter*innenbewegung überhaupt so schlagkräftig werden konnte, hing auch damit zusammen, dass das Leben von den eigenen Selbstorganisationen bestimmt wurde, die überall in den Arbeiter*innenvierteln präsent waren.

Für die Arbeiter*innensportbewegung waren vor allem die starken Bedürfnisse nach Gesundheit, körperlichem Ausgleich sowie der Wiederentdeckung einer Freizeitgestaltung in der Natur ausschlaggebend. Unpolitisch waren die proletarischen Turner*innen aber keineswegs. Im Willen, sich den Zwängen der bürgerlichen Konkurrenz zu verweigern, wurden Wettkämpfe vom ATB zunächst strikt abgelehnt. Außerdem sollte der Sport auch deshalb der Gesundheit der Arbeiter*innen dienen, weil der Zugang zu medizinischer Versorgung für die Lohnabhängigen äußerst begrenzt war. Gemeinsam mit Institutionen wie dem Arbeiter-Samariter-Bund versuchten die Arbeiter*innensportverbände einen Beitrag zum Wohlbefinden der Prolet*innen zu leisten, indem körperliche Ertüchtigung, gesunde Ernährung und teils auch eher fragwürdige alternativmedizinische Heilmethoden propagiert wurden. Auch der alte Falkenschwur aus den 1920er Jahren, nach dem ein Falke weder raucht noch trinkt, sich dafür aber gesund hält und nur gute Bücher liest, steht in der Tradition dieser Bewegung.

Auch darüber hinaus begriffen sich die Arbeiter*innensportvereine als Verbände des proletarischen Strebens nach sozialer Befreiung, die sie in ihren eigenen Strukturen bereits vorwegnehmen wollten. In der ersten Ausgabe der Arbeiter-Turner-Zeitung des ATB hieß es etwa:

„Die freiheitlich gesinnten Turner werden eifrig mitarbeiten, ein altes verfaultes System mit Stumpf und Stiel auszurotten, alte Ruinen niederzureißen, damit neues Leben aus ihnen erblühe. Unter diesen neu errichteten Gebäuden erst werden wir ausrufen können: Wir haben Friede, Freiheit, Recht. Keiner ist des andern Knecht.“

Feindliche Geschwister: ATSB und Rotsport

Beinahe unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg benannte sich der ATB offiziell in Arbeiter-Turn- und Sportbund um und öffnete sich damit auch für Spielsportarten und mit ihnen verbundene Wettkämpfe. Arbeiterfußballvereine wie der Dresdner SV 1910 oder Wacker Braunschweig spielten zu diesem Zeitpunkt eigene Deutsche Meisterschaften unabhängig vom bürgerlichen Deutschen Fußballbund aus.

Die damalige Spaltung der Arbeiter*innenbewegung in Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen machte allerdings auch vor dem ATSB nicht halt, obwohl sich der Verband noch früh zur parteipolitischen Neutralität im Kampf für Freiheit und Sozialismus bekannte. Mit dem Erstarken der KPD entstand ein zähes Ringen um das Verhältnis des Arbeiter*innensports zum Staat – sollte man völlige Autonomie gegenüber dem Klassenstaat anstreben oder in seinen Institutionen mitarbeiten und eine Strategie der parlamentarischen Transformation der Gesellschaft verfolgen?

Als die Mehrheit der Führung im ATSB immer deutlicher zweite Option favorisierte, traten die kommunistisch orientierten Sportvereine, wie der TV Fichte, aus dem ATSB aus oder wurden ausgeschlossen und gründeten daraufhin im Jahre 1930 die Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit, die sich fortan einem revolutionären Sozialismus verpflichtet sah.

Nach der Zerschlagung des Arbeiter*innensports

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialist*innen 1933 erübrigte sich die Spaltung der Bewegung. Beide Verbände wurden gleichermaßen verboten. Die Aktivist*innen wurden verfolgt, eingekerkert oder ermordet. Einige Sportler*innen betätigten sich aktiv am Widerstand gegen den Faschismus1.

Nach dem zweiten Weltkrieg konnte die Arbeiter*innensportbewegung nie wieder an ihre alte Bedeutung anknüpfen. Während die radikalen Teile der Arbeiter*innenbewegung verboten wurden, näherten sich die sozialdemokratischen Organisationen stärker dem Staat an und wurden größtenteils integriert. Verbände in der Tradition dieser Bewegung, wie etwa die Naturfreunde oder der RKB Solidarität sind längst keine sozialistischen Massenorganisationen mehr, auch weil das soziale Arrangement der Nachkriegszeit es den Arbeiter*innen ermöglichte, am bürgerlichen Sozialleben mit seinen Institutionen und Vereinen zu partizipieren.

Die Beantwortung der Frage, wie sozialistische oder im weitesten Sinne linke Organisationen im Leben der Klasse präsent sein und ein solidarisches Zusammenleben praktisch vermitteln können, ist damit zwar voraussetzungsvoller geworden, hat sich aber keinesfalls erübrigt. Die Falken und Sportvereine wie der Rote Stern Leipzig sind Teil des Versuchs, dies auch unter den Bedingungen des Spätkapitalismus noch zu bewerkstelligen und Institutionen jenseits der bürgerlichen Konkurrenzlogik aufzubauen. Die Aufgabe, wieder zu einer organisierten und klassenbewussten Massenbewegung zurückzufinden, ist schwierig. Doch es ist nichts entschieden.

Sascha Döring, LV Thüringen

  1. Siehe hierzu auch den Artikel zu Seelenbinder in dieser Ausgabe