Warum Tore zählen: Ein Plädoyer für Sportspiele im Zeltlager

Sport im Zeltlager ist ein Thema, das manche Konflikte bei Vorbereitungstreffen erzeugt. Er wird häufig misstrauisch beäugt und als Element von Selbstdarstellung und -optimierung kritisiert, die man so nicht während der eigenen Verbandsmaßnahmen erleben will. Nur, wenn das Workshop- und Neigungsgruppenangebot so gar nicht zünden will, wird als Notnagel auf eine Sporteinheit zurückgegriffen. Dem sind verschiedene Punkte entgegenzusetzen.

Sport als Ventil

Wer Sport lediglich als Instrument zur eigenen Darstellung oder als Zwangsmaßnahme der Schule betrachtet, missachtet, dass er die Möglichkeit bietet, Bewegungsdrang auszuleben. Gerade für Personen, die zum ersten Mal im Zeltlager mit dabei sind, ist der Mangel an persönlichem Rückzugsraum und der ständige Kontakt im Gruppenzelt mitunter überfordernd und kann zu Frust und Aggression führen. Gerade dann hilft es oft, den Bedarf nach Freiraum dadurch auszuleben, sich einfach mal richtig auszupowern.

Zeltlager sollen immer auch ein Bruch mit dem Alltag sein. Dieser ist bei vielen Kindern und Jugendlichen davon geprägt, in der (Berufs-)Schule zu sitzen und dort möglichst diszipliniert still zu sein. Für den Bedarf nach Bewegung bleibt in dieser Situation wenig Platz. Umso mehr kann die Zeit im Sommer dann die Möglichkeit bieten, daraus auszubrechen und dies nicht nur in festgelegten Sporteinheiten. Auch Warm-Ups und Workshopmethoden, die zur Bewegung animieren, unterstützen die Abgrenzung zum Schulunterricht.

Sport(-unterricht) ist Mord

Mit Schule hängt wahrscheinlich auch zum guten Teil die Abneigung mancher Teilnehmender und Helfer*innen gegenüber Sport zusammen. Denn Sport als Schulfach ist nicht darauf ausgelegt, Freude an Bewegung oder Interesse an einzelnen Sportarten zu entwickeln. Es geht darum, bestimmte vorgegebene Leistungen zu erbringen, die nach einer festgelegten Norm von Kindern und Jugendlichen eines bestimmten Alters und Geschlechts als erwartbar gelten. Auf die Unterschiede in der körperlichen und koordinativen Entwicklung wird dabei genauso wenig Rücksicht genommen wie auf die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler*innen. Wessen Eltern es sich leisten konnten, einer*einem von klein auf die Mitgliedschaft in einem Sportverein zu bezahlen, hat in der Regel einen grundsätzlichen Trainingsvorsprung und wird schneller mit neuen Übungen zurechtkommen als der Rest der Klasse. Gleichzeitig ermöglicht Erfolg im Sportunterricht auch, sich besonders gut darzustellen, sich bei der jeweiligen Lehrkraft beliebt zu machen und auf dem Schulhof besondere Anerkennung zu bekommen, wenn man die Schule mal wieder bei einem (über-)regionalen Wettbewerb vertreten durfte.

Nun unterscheidet sich das nicht grundlegend von anderen Schulfächern. Während es aber in Mathe oder Erdkunde möglich ist, sich bei schlechteren Leistungen in der Klasse unsichtbar zu machen, wird man bei der Leistungskontrolle im Turnen vor im Zweifel der gesamten Stufe vorgeführt. Die Reaktionen reichen dann von Anfeuern und Mitgefühl (wenn man sehr viel Glück hat) hin zu mehr oder weniger verdeckter Häme oder offenem Lachen, während man den unteren Meter der Kletterstange nicht überschreitet. Übliche Umgangsstrategien sind dann immer wieder neu vorgelegte Sportbefreiungen, vergessene Turnbeutel oder demonstrative Verweigerung, während der man dem*der Sportlehrer*in deutlich macht, dass die Sportnote nicht für die Abinote gebraucht wird. Ein positiver Bezug ist dann kaum noch entwickelbar.

Spätestens mit der Trennung in Mädchen- und Jungskurse bekommt der Sportunterricht noch eine zusätzliche unangenehme Komponente. Während für die Jungen häufig typische Spielsportarten und Kraftsport auf dem Plan stehen, sind für Mädchen eher als typisch weiblich markierte Sportarten, wie Aerobic, Tanz oder Kunstturnen, vorgesehen. Das schreibt nicht nur sexistische Stereotype fort, sondern macht auch den Schüler*innen fortwährend klar, was der “richtige” Sport für ihr Geschlecht sei. Wessen Interessen dann abweichen, wird häufig für merkwürdig gehalten.

So nachvollziehbar es ist, dass man nach solchen Erfahrungen kein Interesse daran hat, Sport in einem anderen Teil seines Lebens fortzuführen, desto mehr wäre es hier wichtig, andere Erfahrungen zu ermöglichen. Sport muss nicht mit Erniedrigung und Scham verbunden sein, sondern kann im Gegenteil etwas sein, das Spaß macht.

“Habt ihr einen Fußball da?” 

Wenn Sport wie beschrieben bereits unter einem Grundverdacht steht, so trifft das im besonderen Maße auf Spielsportarten zu, die von sich aus auf Konkurrenz basieren. Denn, so die Argumentation, so würde alles, was wir an der kapitalistischen Gesellschaft falsch finden, in das Zeltlager übernommen werden und einem solidarischen Kollektivgedanken entgegenstehen. Stattdessen sei es sinnvoll, entweder auf Sportspiele auszuweichen, bei denen es keinerlei Konkurrenz gibt oder auf das Zählen von Punkten zu verzichten – denn dann würden ja alle gewinnen.

Es stimmt natürlich, wenn man Fußball spielt, kann man verlieren, manchmal auch ziemlich heftig. Das mag frustrierend sein, aber es ist eben Teil des Spiels – ebenso wie bei Mau-Mau – nur, dass selten jemand auf die Idee kommt, das Nachziehen von Karten abzuschaffen, damit alle gewinnen. Tore nicht zu zählen, entzieht die Möglichkeit, zu lernen, produktiv mit Niederlagen und Frustrationserfahrungen umzugehen, die einem auch abseits des Spielfelds begegnen können. 

Auch wenn körperliche Spiele wie Fußball zumindest das Potential bieten, dass es zu intensiveren Auseinandersetzungen kommt, ist dies kein guter Grund, das Spiel zu unterbinden. Viel eher macht es Sinn, gemeinsam Regeln für Fair Play aufzustellen und nicht nur Verstöße gegen diese Regeln zu ahnden, sondern ein besonders faires Verhalten im Spiel zu würdigen. Auch hier scheint es hilfreich, sich mit bestehenden Formaten, etwa aus dem Streetsoccer, auseinanderzusetzen und zu prüfen, was wir davon pädagogisch sinnvoll finden und was nicht. Die wahrscheinlich mal gut gemeinte Regel, dass “Mädchentore” doppelt zählen, wäre aus diversen Gründen über Bord zu werfen. Ideen, wie es altersübergreifend ausgeglichene Spiele geben kann, wären aber gerade für Zeltlager spannend, in denen F- und SJ-Ring gemeinsam unterwegs sind. Eine vor einigen Jahren in einem Brandenburger Zeltlager ausprobierte Regel war etwa, dass man ständig ein- und ausgewechselt werden kann und dabei auch in das andere Team gehen kann. Das erhält das Ziel, Tore zu schießen und gleicht im selben Moment größere Unterschiede zwischen den Mannschaften aus. 

Problematisches Konkurrenzverhalten, Gemacker, gezielte Ausgrenzung bei der Wahl der Teams etc. werden am Ende nicht durch das gemeinsame Fußballspiel erzeugt, aber sichtbar gemacht. Dieses sichtbare Handeln lässt sich dann pädagogisch bearbeiten und lässt so eine konkretere Auseinandersetzung und Reflexion zu als eine rein abstrakte Erörterung innerhalb eines Workshops, in dem man sich auf einer theoretischen Basis darauf verständigt hat, dass die gesellschaftliche Konkurrenz abgelehnt wird. Dies ist kein Plädoyer für eine Abschaffung theoretischer Auseinandersetzung, sondern für eine Ergänzung um leicht erfahrbare Alltagsbezüge.

Es gibt viele gute Möglichkeiten, Sport in Zeltlager und andere Falken-Veranstaltungen zu integrieren. Gerade bei eher “sitzlastigen” Veranstaltungen könnten Sportangebote in die Pause integriert werden, ohne dass es dazu besonders viel Material und Aufwand bedarf. Wurfspiele wie Frisbee können etwa niedrigschwellig zum Lernen von Namen verwendet werden und ermöglichen es permanent, neu einzusteigen. Bisher verwendete Methoden in Workshops können darauf geprüft werden, ob sie mit Bewegung kombiniert werden können, ohne dabei zu überfordern.

Es geht nicht darum, alle ohne Unterschied zur Bewegung zu zwingen, sondern es soll eine offene Möglichkeit sein, neue Dinge auszuprobieren und darüber Interesse und Freude zu entwickeln. Wir sollten uns darüber bei unseren Vorbereitungstreffen Gedanken darüber machen und Sport nicht als Notlösung behandeln, die wir nutzen, wenn die Teilnehmenden keine Lust auf unser Workshopangebot haben.

Steffen Göths, LV Brandenburg