Eine Stunde Zuhören? Macht 50 € – Warum uns der Begriff der emotionalen Arbeit nicht weiterbringt

Schon länger höre ich den Begriff ‚Emotionale Arbeit‘ oder Abwandlungen davon von Genossinnen und Freundinnen. Sie verwenden ihn beispielsweise, um Aufgaben zu beschreiben, die sie unausgesprochen in Gruppensituationen übernehmen oder um zu erklären, warum sie ihr Privatleben als auslaugend empfinden. In den USA kursiert der Begriff ‚emotional labor‘ schon länger in Artikeln, Blogeinträgen und Kommentarspalten. Dort wird er verwendet, um eine recht weite Bandbreite an Aufgaben zu beschreiben, die Frauen übernehmen: Rat geben, Trost spenden, zuhören, Andere umsorgen und ihnen Aufmerksamkeit schenken, aber auch Geburtstage im Kopf haben, Putzkräfte auswählen und einstellen oder das Haustier einschläfern lassen. Auch Sex wird in einigen Kommentarspalten unter Emotionale Arbeit gefasst. Die Autorinnen problematisieren, dass Frauen die oben genannte Dinge – in den aufgeführten Beispielen nahezu ausschließlich für Männer – tun, ohne dafür wertgeschätzt zu werden oder Vergleichbares zurückzubekommen. Der Begriff ‚emotional labor‘ soll zunächst dazu dienen, dies wahrnehmbar und verhandelbar zu machen. Einige Autorinnen stellen die zugespitzte Forderung nach Bezahlung für Emotionale Arbeit. Ein Beispiel von der feministischen Webseite ‘The Toast’: „Es mag kontraintuitiv sein, aber es lohnt sich, Emotionale Arbeit als Dienstleistung zu betrachten – eine, die in Reaktion auf konstante Nachfrage angeboten wird. Was auch immer du vom Kapitalismus hältst, wir baden darin, und nach seinen eigenen Regeln sollten wir für eine Arbeit, die stark nachgefragt ist, vergütet werden.“

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Von Kindern und Kadern

(Bild: Mona Schäfer)

„Naja, Leo mal ganz ehrlich: linker Kader sein und Kinder haben, das schließt sich einfach aus. Außer vielleicht die Falken machen bei jedem Treffen Kinderbetreuung.“ 

Dieser Satz fiel beim Cornern mit Nicht-Falken-Genossen*innen. Zunächst irritierte er mich, aber natürlich hatte ich nicht die schlagfertige Antwort parat, die ich ihm gerne entgegengebracht hätte. Dennoch regte er mich nachhaltig zum Nachdenken an. Wie strukturieren wir eigentlich unsere politischen und privaten Räume? Welche Bedeutung haben Kinder in unserer Gesellschaft? 

Als Materialist*in schaut mensch sich in diesem Fall natürlich die materiellen Bedingungen an, unter denen Menschen versuchen, ein politisches Familiendasein zu führen. Hierbei kann der neoliberale Umbau von (Sozial-)Staat und Ökonomie nicht umschifft werden. Bezeichnend für ihn ist unter anderem die Ablehnung kollektivistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Auch wenn in die Verbreitung der neoliberalen Ideologieströmungen viel Arbeit gesteckt wurde und wird, sind es meines Erachtens vor allem die realen Konsequenzen neoliberaler Politik und Marktwirtschaft, die einen erheblichen Einfluss auf das (Sozial-) Leben der Menschen haben.

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Gas, Wasser, Solidarität

Als ich von der AJ-Redaktion angefragt wurde, einen Artikel über unseren Kollektivbetrieb zu schreiben, fragte ich mich erstmal, was das eigentlich mit dem Thema Klasse zu tun hat. Während des Schreibens ist mir das dann selbst erst deutlich geworden und aus dem Bericht über meine Arbeit und den Betrieb wurde dann auch ein Text über die Beziehungen zwischen den Klassen in dieser Gesellschaft, über die Rolle von uns Sozialist*innen und auch über meine eigene Stellung darin.

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Genoss*innen! – Eine besondere Beziehungsweise

„We’ve learned the world’s divided
and we have made a choice“

No going back – Lied der Bergarbeiterfrauen

Bei den Falken bezeichnen wir einander in der Regel als Genoss*innen und meinen damit eine besondere Weise, sich aufeinander zu beziehen. Genoss*innen, das sind diejenigen, die im politischen Kampf auf derselben Seite stehen. Die Kommunistin und Politikwissenschaftlerin Jodi Dean schreibt in ihrem Buch “Genossen!”: „(…) ich begreife den Genossen als Chiffre für das politische Verhältnis von Menschen auf derselben Seite einer politischen Barrikade. (…) Wenn wir siegen wollen, und wir müssen siegen, müssen wir zusammen handeln.

We’ve learned the world’s divided

Diese Definition der Genoss*innenschaft hat eine ganz und gar nicht selbstverständliche Voraussetzung: Das Verständnis von Gesellschaft als Resultat von Konflikten zwischen konkreten Akteur*innen. Akteur*innen, also auch wir als Verband, verfolgen Interessen, entwickeln Strategien, um sie durchzusetzen, schließen Bündnisse, versuchen Diskurse zu lenken und Menschen für ihr Projekt zu gewinnen, kurz: Man tut, was nötig ist, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Im Grunde ist diese Aussage banal. Sie sagt nichts anderes, als dass es Politik gibt. Aber gerade das ist nach Jahrzehnten der neoliberalen Zurichtung absolut keine Selbstverständlichkeit mehr. Neoliberalismus heißt Politikverdrängung. Jodi Dean beschreibt die Entpolitisierung des gesellschaftlichen Lebens als ein Auseinanderfallen in zwei Pole: auf sich selbst zurückgeworfene Individuen auf der einen und unpersönliche, entfernte Systeme, die unveränderbar erscheinen, auf der anderen Seite. In ihren eigenen Worten: „Wir haben verantwortliche Individuen, die verantwortlich gemacht und als Zentren autonomer Entscheidung dargestellt werden; und wir haben Individuen, die mit ausweglosen Situationen konfrontiert sind, auf die sie keinerlei Einfluss haben.“

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Warum wir nicht alle Arbeiter*innen sind – und warum wir trotzdem gewinnen können!

Die Behauptung, es gäbe mittlerweile keine Klassen oder mindestens keine Arbeiter*innenklasse mehr, ist auch in der Linken immer noch verbreitet. Die Welt heutzutage scheint komplizierter, immerhin gibt es in den kapitalistischen Zentren eine ganze Reihe von Dienstleistungsberufen, die nicht so recht zum Bild der schaffenden männlichen Malocher passen wollen. Ein Versuch, die Welt wieder einfach zu machen und den Klassenkampf wieder zu beleben, ist das Gegenargument, nach dem alle Lohnabhängigen Teil der Arbeiter*innenklasse sind. 

Was dieses Argument im 21. Jahrhundert zunehmend auch in der sozialistischen Linken populär macht, ist die wirkliche Notwendigkeit, überhaupt irgendein geteiltes Interesse im politischen Kampf zu betonen. Populäre liberale Gesellschaftskritiken leisten gerade eher das Gegenteil, nämlich extrem präzise die Unterschiedlichkeit von Unterdrückungserfahrungen auszuleuchten. Sie haben dabei den Vorteil, sehr unmittelbar und fast formelhaft an die Unterdrückungserfahrungen im Kapitalismus anschließen zu können. Keine zwei Erfahrungen im Kapitalismus sind gleich.

Die ebenso formelhafte Erwiderung, dass fast alle Menschen das Merkmal der Lohnabhängigkeit teilen, bleibt dagegen etwas zahnlos. Mit diesem Argument konkurriert die sozialistische Linke mit der liberalen Gesellschaftskritik auf deren Terrain, indem sie versucht die Klassenposition als formelhafte ja-nein-Frage zu fassen, die auf den individuellen Alltag angewendet werden kann: Kriegst du Lohn oder nicht? Statt auf ein gemeinsames Interesse wird auch hier nur auf ein gemeinsames Merkmal verwiesen und Interesse mit diesem Merkmal gleichgesetzt: Ihr seid lohnabhängig, ihr seid auf der gleichen Seite. Dass das kaum jemanden überzeugen kann, ist wenig verwunderlich: Zu krass sind die lebensweltlichen Unterschiede zwischen der rumänischen Spargelstecherin und dem Tönnies-Manager. 

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Ein Treppenwitz der Geschichte? – Aus „andere jugend“ wird wieder die „Arbeiter*innenjugend“

Bild: Lena Schliemann

Vielleicht habt ihr es schon mitbekommen: Die Bundeskonferenz hat beschlossen, die aj umzubenennen. Nachdem die Zeitung seit 30 Jahren “die andere jugend” hieß, heißt sie nun “Arbeiter*innenjugend” und ist damit ihrem ursprünglichen Namen “Arbeiterjugend” wieder deutlich näher. Doch warum wurde die Zeitung damals umbenannt und woher kommt die Entscheidung, dies nun wieder zu ändern? Dazu haben wir mit Genoss*innen gesprochen, die 1991 mitentschieden haben und auch einen Blick in die erste “andere jugend” geworfen – und können euch wärmstens empfehlen, es uns gleichzutun.

1991: Ist “Arbeiterjugend” noch zeitgemäß?

Unter dem Eindruck der Auflösung des Staatssozialismus (wir berichteten) in Osteuropa und dem Beitritt der DDR zur BRD stellte sich der Bundesvorstand in der Nachwendezeit die Frage, welche Jugendlichen man noch mit einer Zeitung erreicht, die “Arbeiterjugend” heißt. Im Editorial der Ausgabe 1/1991 wird darauf verwiesen, dass sich der Kapitalismus seit 1904 verändert habe und auch für eine sozialistische Jugendorganisation die Zielgruppe nicht mehr klar als arbeitende Jugend zu definieren wäre. Genoss*innen, die damals aktiv den Verband gestalteten, erinnern sich:

“Der Begriff war kein Zeitschriftentitel mehr, von dem sich Jugendliche angesprochen fühlen und sie identifizierten sich nicht mehr mit der Bezeichnung ‘Arbeiterjugend’, so war damals die politische Auffassung und Mehrheitsentscheidung.”

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Care-Arbeit und Krise – Zur Situation von Frauen in der Covid-19-Pandemie

Pflege am Boden – Flashmob für bessere Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals (Foto: Mundus Gregorius)

Dass vor dem Virus nicht alle gleich sind, ist seit Beginn der Pandemie der wichtige Einwand von links gegen all jene, die behaupten, „wir“ säßen in einem Boot und müssten nun zusammenhalten. Bereits bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten wurden durch die Pandemie zusätzlich verschärft. Bisher nur notdürftig verkleisterte oder noch halbwegs erträgliche Probleme treten nun voll ans Tageslicht. Dies betrifft auch das patriarchale Geschlechterverhältnis: Die Gesundheitskrise, so wurde mehrfach dargelegt, sei vor allem auch eine „Krise der Frauen“. Wie lässt sich diese Krise nach einem Jahr Pandemie (vorläufig) bilanzieren?  

Besondere Betonung hat in der Debatte um den geschlechtlichen Aspekt der Corona-Pandemie die häusliche Gewalt erfahren. Gleich zu Beginn des ersten Lockdowns warnten feministische Akteur*innen vor zunehmender Männergewalt innerhalb von Partner*innenschaften und Familien. Sie betonten das Problem fehlender Ausweichmöglichkeiten und Anlaufstellen für Frauen und Kinder. Tatsächlich haben Hilfsorganisationen einen Anstieg von Unterstützungsgesuchen festgestellt. Verlässliche Zahlen gibt es aufgrund der in privaten Räumen stattfindenden Gewalt und der (insbesondere in Pandemiezeiten) fehlenden sozialen Kontrolle nicht. Alles deutet allerdings darauf hin, dass auch hierzulande Männer eigene Krisenerfahrungen durch Aggressionen gegen Frauen und Kinder verarbeiten – ein typisches Muster patriarchaler Männlichkeit.

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„Wann wird es unsere Klasse treffen?“ – Schülerin sein in Coronazeiten

Nichts mit weihnachtlicher Besinnlichkeit – Der Schreibtisch der Autorin im Homeschooling

Am 13. März 2020 wusste ich, dass etwas anders ist. Schon seit Tagen wurde in allen Medien von einem Lockdown gesprochen. Das Coronavirus sei jetzt offiziell in Deutschland angekommen und die Infektionszahlen stiegen. Schulschließungen gab es in meinem Leben noch nie und die Vorstellung von ein paar überbrückenden Hausaufgaben unter ferienähnlichen Bedingungen fand ich gut. Ich war motiviert wie die meisten anderen auch. Wir stellten uns den Lockdown als große Entlastung vor.

Der Stress durch eigentlich bevorstehende Klausuren, Tests und Abgaben machte uns eh die ganze Zeit wahnsinnig. Eine kurze Pause vom Stress, um zu sich zu kommen, sich zu ordnen und frisch zu starten, war eine schöne Vorstellung.

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Die Nazi-Mädels: Immer Liebe und viel Sekt

Bild: Sören Kohlhuber

Das mediale und gesellschaftliche Bild von Frauen als Täterinnen

Frauen als aktive Täterinnen rechten Terrors? Den meisten Leser*innen kommt – natürlich – Beate Zschäpe in den Sinn, weitere weibliche Täterinnen werden wenige benennen können, obwohl beispielsweise der Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann formulierte, er wolle Frauen „gleichberechtigt an den Wehrsport“ heranführen, und dies auch tat. Unschwer ist also festzustellen, dass die Rollen von Frauen wenig beachtet und beschrieben wird: Die Haupttäter im Feld des Rechten Terrors und Rechtsterrorismus sind männlich. ‚Lone-wolf‘-Taten von Frauen gibt es faktisch nicht, dennoch gibt es auch im Phänomenbereich Rechter Terror nach 1945 durchaus Frauen, deren Rolle meist wenig beleuchtet wurde.

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Braucht Gedenken Orte? Keine Gedenktafel, kein Denkmal und kein Stein können das Ziel sein, sondern nur der Weg dorthin.

Gedenkstätte Buchenwald, Glockenturm mit Denkmal von Fritz Cremer / Bild: Wikimedia Commons

Die Frage im Titel dieses Artikels, mit der inhaltlich auseinanderzusetzen ich gebeten wurde, rief in mir zunächst einige Verwirrung hervor. Ausschlaggebend dafür war der sonderbare Akteur, der darin benannt wird: das Gedenken. Braucht das Gedenken einen Ort?, lautete denn also die Frage. Gedenken an sich hat jedoch kein Bedürfnis, keinen Wunsch und stellt sich auch diese Frage nicht. Denn Fragen nach derartigen Notwendigkeiten stellen sich stets die Subjekte, die die Antworten darauf zur Grundlage ihres Handelns machen wollen. Nach einiger Überlegung habe ich mich dazu entschieden, genau diese Tatsache zum Ausgangspunkt meiner Ausführungen zu machen und im folgenden Artikel daran der Frage nachzugehen, wer eigentlich Orte des Gedenkens braucht und wozu? 

Funktionen von Gedenkorten

Gedenkorte initiieren zu wollen, kann verschiedene Gründe haben. Die zwei wichtigsten Motive, die sich hierfür benennen lassen, sind sicherlich einerseits die Schaffung eines Ortes für (individuelle) Trauer, beispielsweise um Verstorbene, andererseits jedoch die Generierung politischer Aufmerksamkeit für den Gegenstand des Gedenkens, gewissermaßen die Konstituierung eines Mahnmals. Beide Beweggründe müssen nicht zwangsläufig zusammenfallen: So ist eine Grabstätte auf einem Friedhof in vielen Kulturkreisen ein Ort des Gedenkens, beispielsweise für die Angehörigen und früheren Freunde der Toten. Geschaffen wird sie beispielsweise durch die Familie, die sich dort individuell oder gemeinsam an die verstorbene Person erinnert oder trauert. Eine politische Dimension des Gedenkens ist damit nicht automatisch verbunden. Diese entsteht, wird dem Ort eine über die individuelle Trauer hinausreichende Bedeutung zugemessen, z.B., weil jemand Opfer eines rassistisch motivierten Verbrechens wurde. Häufig ist die Politisierung des Gedenkens auch mit einer Erweiterung der Gruppe der Akteure, die die Initiierung eines Gedenkortes forcieren, verbunden sowie mit einer Veränderung der Anforderungen, die daran gestellt werden. Nicht allein die Familie, sondern auch politische Organisationen oder fremde Einzelpersonen wirken häufig daran mit. Die Ebene des privaten Gedenkens an einen Freund oder ein Familienmitglied wird damit verlassen. Politisches Gedenken stellt ein Ereignis oder eine Tat in den Mittelpunkt und erinnert an Menschen vor dem Hintergrund dieser Tat. Deshalb ist es beispielsweise nicht notwendig, die Opfer eines rechten Terroranschlags persönlich gekannt zu haben, um ihnen zu gedenken. Politische Gedenkorte befinden sich darum auch häufig an Tatorten oder Orten des öffentlichen Interesses und weniger an Gräbern, wenngleich diese z.B. mit Blick auf KZ-Gedenkstätten diese Orte nicht immer voneinander zu differenzieren sind. Doch selbst dort finden sich häufig noch unterschiedliche Gedenkorte für individuelles und politisches Gedenken. Denn auch wenn Angehörige der dort Ermordeten am politischen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus partizipieren, sind die Orte für sie eben noch etwas anderes: Orte der Trauer, die gewissermaßen das individuelle Grab ersetzen müssen, das die Nazis ihren Müttern, Vätern, Freund*innen und Genoss*innen verweigerten. Familien installieren deshalb Tafeln mit eingravierten Namen, die bisweilen stark an Grabsteine oder Grabmale auf „gewöhnlichen“ Friedhöfen erinnern. Zeremonien zu Gedenktagen, beispielsweise dem Befreiungstag oder dem internationalen Holocaust-Gedenktag finden dort jedoch nicht statt. Für das politische Gedenken sind andere Orte und Gedenkzeichen präferiert, die die gesellschaftliche Dimension des Geschehenen in den Mittelpunkt rücken. Auch wenn der Begriff des „Mahnmals“ heute häufig der verstaubten Mottenkiste des DDR-Antifaschismus zugerechnet wird, so teilen auch moderne Denkmäler diesen Impetus – wenngleich in weniger autoritärem Duktus. Auch sie sollen die Vergangenheit mit Blick auf die Zukunft deuten und sind sich nicht selbst Zweck. Sie thematisieren Rassismus und Antisemitismus mit dem Ziel, ihn in seinen mörderischen Auswirkungen sichtbar zu halten, zu skandalisieren und zu politischem Handeln dagegen in der Gegenwart aufzufordern. 

Selbst einen Gedenkort schaffen – Wozu? 

Derzeit gibt es öffentliche Debatten um die Errichtung von Gedenkorten zur Erinnerung an die Opfer rechten Terrors in der Gegenwart. So hat zum Beispiel die „Initiative 19. Februar“ einen Gedenkort für die Opfer des Anschlags von Hanau eingerichtet, bei dem 2020 zehn Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden.  Die Synagogentür, die im Oktober 2019 dem Angriff eines rechtsextremen Attentäters standhielt und ein Blutbad an der jüdischen Gemeinde verhinderte, wurde kürzlich als Mahnmal neben der Synagoge installiert.

Einen Ort des Gedenkens für die Opfer rechten Terrors zu schaffen oder sich an den Debatten darum zu beteiligen, kann ein wichtiger politischer Akt auch für uns als sozialistischer Kinder- und Jugendverband sein. Doch nicht die Tatsache, dass irgendwann irgendwo eine Tafel, ein Stein oder etwas anderes installiert wird, ist dabei entscheidend. Ritualisierte Gedenkpraxen unhinterfragt zu reproduzieren, hilft sicherlich niemandem weiter. Dem Gedenkort voraus gehen muss eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gegenstand des Gedenkens. Sich mit den Ursachen rechten Terrors zu beschäftigen, kann beispielsweise eine Reaktion auf die spontane Fassungslosigkeit sein, die wir erleben, wenn wieder einmal Menschen Opfer rechter Gewalt geworden sind. Auch die Fragen, wie so ein Ort auszusehen habe, an wen er sich richtet oder wo er sich befinden solle, wären politisch zu diskutieren. Der Blick in die Vergangenheit hätte dann auch konkrete Konsequenzen für die Zukunft, für die eigene politische Praxis. Hürden und Widerstände, auf die die Initiator*innen von Gedenkorten im Laufe des Prozesses stoßen oder eben auch nicht, lassen uns darüber hinaus etwas über die Gesellschaft begreifen, in der wir leben und damit eben auch über die Gesellschaft, die die Rassist*innen, Antisemit*innen und Frauen*feinde hervorbringt, an deren mörderische Taten wir erinnern wollen. Jeder einzelne rechte Übergriff, antisemitische Anschlag und jedes rassistische Gewaltverbrechen ist auch ein Beweis des Scheiterns dieser Gesellschaft an ihrem Glücksversprechen auf ein Leben in Freiheit und Gleichheit für alle. Das beharrlich zu kritisieren und auch öffentlich sichtbar zu machen, dafür bräuchten wir Orte des Gedenkens.

Annika Neubert, LV Thüringen